Digitalisierung ist mehr als neue Hard- und Software. Was bedeutet Digitalisierung für Sie?
Jasmin Bendick: Ich bin seit zwei Jahren im Projekt Digi-Quartier aktiv, das vom Land NRW gefördert wurde. Wir haben das ganz neu aus dem Boden gestampft und Träger gefunden, unter anderem in Herten, Castrop-Rauxel und Dorsten.
Ich hatte dann das Glück, für Dorsten das Projekt umsetzen zu können mit dem Ansatz digital-sozial.
„Ambulant vor stationär“ ist auch das Pflegeleitbild des Kreises Recklinghausen und wir versuchen durch neue Wege und niederschwellige Ansätze, Pflege zu digitalisieren. Dazu haben wir verschiedene Konzepte entwickelt. Das geht vom klassischen Workshop bis zur Aufklärungsarbeit für Mitarbeiter, aber auch ganz stark für Angehörige, für pflegende Angehörige, für Betroffene. Es geht einfach darum, zu erklären, wo kann die Digitalisierung jetzt unterstützen, wenn ich pflegender Angehöriger bin oder wenn ich eine Pflegeeinrichtung leite. Wie kann ich den einen oder anderen Prozess besser machen, damit zum Beispiel mehr Lebensqualität für die Beteiligten dabei rausspringt.
Wir haben auch ganz praktische Ansätze. Da ist einmal die Bücherei der Dinge, die wir mit der Bücherei in Dorsten umsetzen. Dort können Bürger mit dem normalen Büchereiausweis hinkommen und sich bestimmte Produkte kostenfrei ausleihen, wie einen GPS-gesteuerten Gehstock, dessen Nutzer im Fall der Fälle einen Notruf absetzen und geortet werden kann. Es gibt aber auch Therapiekugeln, elektronische Staubsaugroboter und elektronische, digitale Matratzenheber, die beim Umbetten helfen. Auch E-Mobilität spielt bei uns eine große Rolle. Wir haben jetzt angefangen, E-Bikes zu verleihen und auch hier müssen Bürgerinnen und Bürger dafür nichts zahlen.
Wir machen Wegweiser in einfacher Sprache, in denen es darum geht, zu erklären, was WhatsApp oder was eine E-Mail ist. Wir sind auch auf der Forschungsebene unterwegs und arbeiten mit Hochschulen in der Region zusammen. Und wir haben eine Technikdatenbank erstellt. Da gebe ich mein Problem ein und bekomme eine digitale Lösung. Die Datenbank nennt sich Digi-Quartier.de und ist eine einfache Suchmaske. Wir machen da keine Produktwerbung, sondern wollen informieren, was es gibt. Denn es gibt sehr viele, sehr schöne Projekte im In- und Ausland. Man muss da den Schuh nicht neu erfinden, sondern die Leute einfach aufklären, was es schon an digitalen Möglichkeiten gibt. Also, das ist so unser Fokus. Kurz gesagt: digital-sozial.
Michael Lücke: Ich bin seit 20 Jahre im Fraunhofer Institut für Materialfluss und Logistik als Senior-Engineer und eigentlich zuständig für Industrieprojekte im Mittelstand. Im Moment habe ich aber zwei sehr interessante Forschungsvorhaben im Bereich der Digitalisierung und erlebe Digitalisierung auf zwei Arten. Zum einen auf meine ureigene, persönliche Weise – und ich glaube, da erlebe ich Digitalisierung genauso jeder andere auch. Also vor allem per WhatsApp , wahrscheinlich dem Hauptmedium der Digitalisierung.
Mein Institutsleiter hat vor fünf Jahren auf dem Zukunftskongress Logistik gesagt, dass im Jahr 2020 jedes Ding, jede Sache, jeder Gegenstand eine IP-Adresse haben wird, und da sind wir heute auch. Ich bin zum Beispiel jeder Zeit mit meinem Auto verbunden. Und tatsächlich kann rein theoretisch jedes Ding heute eine IP-Adresse haben.
Eine IP-Adresse ist das, was jeder Mensch in der virtuellen Welt braucht. Und diese virtuelle Adresse ist das hauptsächliche Thema der Digitalisierung. Ich muss erreichbar sein, ich muss kommunizieren können.
Dann bin ich bei dem Thema Vernetzung. Kommunikation heißt Vernetzung digital. Vernetzung verändert die Welt, weil wir uns digital viel schneller vernetzen als früher, wo wir uns über Post austauschen mussten, wo wir von der Ost- zur Westküste der USA 14 Wochen gebraucht haben, um einen Brief hinzuschicken. Das geht heute in Mikrosekunden. Das, nämlich nahezu in Echtzeit zu agieren, ist – das ist meine Überzeugung - das Wesen der Digitalisierung.
Und was bedeutet das für mich im beruflichen Sinn? Natürlich hat alles, was ich beruflich mache, mit Digitalisierung zu tun. Ich habe zwei spanende Forschungsvorhaben. Das erste ist das Projekt LOUISE (LOgistik und Innovative SErvices). Da machen wir Logistik und innovative Services für städtische und ländliche Räume zur Versorgung der Bevölkerung. Also aktuell auch für die Bereiche und die Menschen, die in Quarantäne sind. Das ist dann zum Beispiel der Einkaufsservice für das Seniorenwohnheim. Aber ich kann auch vom Wochenmarkt meine Einkäufe nach Hause fahren lassen. Das alles machen wir mit dem E-Bike. Wir unterstützen so den lokalen Handel, das lokale Kleingewerbe: durch eine logistische Dienstleistung und durch digitale Verknüpfung mit einer App beziehungsweise über eine Web-Plattform.
Das gilt für das Kleingewerbe, das gilt aber auch für Beschaffungsseite: Die Leute können in ihrem Geschäft einkaufen und es sich nach Hause bringen lassen. Oder sie rufen an oder gehen in den Webshop ihres Geschäfts, bestellen und bekommen ihre Waren geliefert. All das gehört dazu.
Als Forschungsprojekt machen wir das im Moment kostenlos. Modell-Stadt ist Bottrop, gerade binden wir Kirchhellen in das Projekt LOUISE ein. Aber natürlich wird daraus irgendwann mal ein Geschäftsmodell entstehen müssen.
Digitale Geschäftsmodelle sind nicht alle so einfach wie in diesem Fall, wo man für eine Transportleistung Geld bezahlt. Und nicht alle Dienste sind aus dem sozialen oder gesundheitlichen Bereich, sondern viele Dienste bedürfen eben eines Geschäftsmodells – und neue innovative Geschäftsmodelle im Kontext der Digitalisierung sind eben auch verdrängende Modelle.
Das muss man sagen: Digitale Geschäftsmodelle sind sehr disrupt. Wenn ich ein Beispiel anführen darf: der Ponyexpress. Da sind wir wieder in den USA. Der Ponyexpress schaffte es, die Postkutsche abzulösen, weil er eben nicht mehr vierzehn Wochen brauchte von Ost nach West, sondern nur noch vier oder fünf Tage. Der Ponyexpress lebte trotzdem genau ein Jahr, obwohl er so revolutionär die Zeit der Postzustellung verkürzte hatte. Warum? Weil genau in dieser Zeit irgendjemand Bäume abholzte, Leitungen spannte und – während sich alle fragten, was passiert denn da? – plötzlich anfing über diese Leitung Nachrichten zu morsen. Und so war genau ein Jahr nach dem Start des Ponyexpress diese hocheffiziente Geschäftsidee – die haben ja die Ponys extra gezüchtet, die Sättel dafür optimiert, Schnell-Spann-Gurte entwickelt, kleine und leichte Reiter gesucht – schon im Aus. Und das nur, weil irgendjemand genau in der Zeit, in der alles getan wurde, um schnell von Pferd zu Pferd zu wechseln, die Nachrichtenübertragung digitalisiert hat. Plötzlich dauerte die Übertragung von Informationen nur Mikrosekunden – was dem Geschäftsmodell des Ponyexpress das Genick brach.
Ein anderes Beispiel: Heute kriege ich kostenlose Leistungen dafür, dass ich Daten bereitstelle. Ich kann vier Wochen Zeitungsabos kostenlos bekommen und nach vier Wochen gehe ich von der Frankfurter Allgemeinen zur Süddeutschen, von der Süddeutschen zur … und so weiter. Ich muss immer nur meine Daten dafür zur Verfügung stellen. Diese Geschäftsmodelle sind also grundsätzlich anders als die in der Vergangenheit. Ja, weil die Daten eben zum Handelsgut werden. Deswegen ist das Thema Datenschutz und damit die Datenschutzgrundverordnung eben auch wichtig.
Stefan Völlmert: Ich bin seit Gründung der Sekundarschule Kirchhellen der Schulleiter dieser Schule. Das Spannende an dieser Schule ist, dass wir in einem leeren Gebäude gestartet sind, wo es nichts gab. Und das war unser großes Glück. Nicht nur im Bereich der Digitalisierung übrigens.
Der Schulträger der Stadt Bottrop ist also auf uns zugekommen und hat gefragt: „Ihr habt ein leeres Gebäude. Was braucht Ihr?“ Und wir haben uns damals – im Jahr 2015 – völlig innovativ gegen alles entschieden, was zu der Zeit eigentlich üblich war. Wir wollten kein Computerraum, wir wollten keine PCs. Wir wollten nicht das, was alle Schulen hatten, sondern haben uns damals schon sehr mutig auf mobile Lösung festgelegt: iPads.
Wir sind jetzt im sechsten Jahr. Unsere Schule ist voll ausgebaut. Und wir sind 2018 digitale Schule geworden. Unsere mobilen Lösungen sind so weit, dass unsere letzten beiden Fünfer-Jahrgänge durch Eigenfinanzierung der Eltern eigene iPads angeschafft haben und wir dadurch im pädagogischen Bereich – und darum geht es mir als Schulleiter – wirklich ganz individuell mit den Schülern arbeiten können. Das ist ein Riesenvorteil!
Es wird in der Bildung immer von Individualisierung des Unterrichts gesprochen, und die Digitalisierung kann einen großen Teil dazu beitragen.
Allgemeines zur Digitalisierung, da würde ich für mich persönlich ausholen. Ich kann mich genau erinnern: 1988 war ich in Norwegen, und da stand vor mir ein Mensch und der hatte so ein Teil in der Hand. 30 Zentimeter, schwarz – und der hat da hereingesprochen. Ich werde diesen Augenblick nie vergessen. Es war das erste Mobiltelefon, das ich gesehen habe.
Jetzt bin ich 50 Jahre alt und konnte diese digitale Revolution – die vergleichbar ist mit der industriellen Revolution – live miterleben und erlebe sie hoffentlich noch lange weiter live mit.
Diese Entwicklung ist für mich persönlich höchst spannend. Damals habe ich im Urlaub Dias gemacht, das war analog. Und jetzt sind sie digitalisiert.
Digitalisierung hat natürlich verschiedene Gesichter. Im Bildungsbereich geht es eben um Individualisierung und um technische Möglichkeiten für die Bildung der Kinder. Aber es geht natürlich auch darum, die Kinder digital kompetent zu machen, digitale Kompetenzen zu schaffen für die Arbeitswelt, die auf sie zukommt.
Unsere Schüler – zumindest die Fünftklässler – werden in Berufe gehen, die es heute noch gar nicht gibt. Denn die Welt ist in einem enormen, schnellen Wandel. Viel schneller als in der industriellen Revolution. Und wir versuchen unsere Kinder möglichst kompetent zu machen: im sozialen Bereich und im digitalen Bereich.
Ein großer Teil unseres Kollegiums ist davon überzeugt, dass es nicht mehr viel Sinn macht, nur Fachwissen den Kindern beizubringen. Den Pythagoras in Mathe, den muss ich natürlich lernen. Ich muss schreiben, rechnen. Die Grundfähigkeiten muss ich können. Aber viel wichtiger ist es, sich in den Welten, die auf die Kinder zukommen, zurecht zu finden. Dazu gehört die digitale Welt ganz sicher.
Ein anderes Beispiel aus meiner Vergangenheit, ein sehr persönliches. Ich weiß noch, wie ich 1985/86 mit meinem Vater bei Karstadt vor einem Regal stand, da lag der Commodore C64. Den wollten mein Bruder und ich unbedingt haben. Mein Vater wollte ihn sich zeigen lassen. „Was macht Ihr denn damit?“ Mein Bruder fing also an zu programmieren. Zwei Zeilen, das konnte man ja damals. Aber mein Vater sagte: „Das ist Quatsch. Das braucht man nicht. Das hat keine Zukunft.“
Wir haben es alle längst gemerkt – auch Frau Merkel: Diese Digitalisierung, die ist nicht mehr aus unserem Leben wegzudenken. Die Frage ist nur, wie wir in Zukunft damit umgehen wollen. Wie wir uns persönlich schützen wollen. Es gibt ja mittlerweile den Digitalen Burn-out. Aber wie wir mit unserer digitalen Zukunft datensicher und vernünftig umgehen wollen, das finde ich ganz spannend. Und das live mitzuerleben, ist für mich total toll.
Digitalisierungsexperten sprechen von der Transformation unserer Gesellschaft. Welche Veränderungen stehen an?
Michael Lücke: Gerade die Pandemie hat jetzt ja gezeigt, auch mit welcher Geschwindigkeit es gehen könnte und wie man alle Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens digitalisiert. Sei es im Bereich der Pädagogik: Da haben wir aufgrund mangelnder Leitplanken gesehen, was passiert, wenn es nicht gut läuft. Sei es gesundheitlichen Bereich oder im finanziellen. Ich weiß nicht, wie viele Apps meiner Bank, meiner Versicherungen, ich jetzt auf meinem Handy habe.
Jeder Gegenstand ist heute im Internet der Dinge unterwegs. Wir sprechen ja nicht mehr vom Internet der Daten, wir sprechen heute vom Internet der Dinge und Dienste. Man muss ja heute schon fast mit seinem Kühlschrank kommunizieren, sonst ist man hinten drangeblieben.
Dazu kommt dann, was Professor Kagermann als Chef der acatech seiner Zeit die 4. Industrielle Revolution genannt hatte. Also nach Mechanisierung, Elektrifizierung, Automatisierung, kommt jetzt eben jetzt die Autonomisierung. Die Dinge werden autark, und sie fangen an, intelligent zu werden.
Die künstliche Intelligenz, das ist die nächste Stufe, die wir jetzt erreichen. Also ich bin erstaunt, was mein Handy mir vorschlägt, wohin ich fahren soll. Denn bevor ich weiß, wohin ich will, sagt mir mein Handy schon: „Du musst Getränke holen.“ Und ich denke, stimmt. Die Woche ist wieder rum, die Kästen sind leer.
Das macht einem natürlich auch schon ein bisschen Angst. Aber so weit geht diese Transformation überall. Industrie 4.0 heißt es in die Wirtschaft – und genauso wie sich das Automobil und das Internet nicht haben aufhalten lassen, wird sich auch die künstliche Intelligenz nicht aufhalten lassen: Die Dinge werden autark.
Deshalb müssen wir die Schüler und Studenten, aber auch die Lehrer und die Lehrenden an der Uni ganz anders ausbilden. Da gebe ich Ihnen Recht, Herr Völlmert. Sie sollen alle die entsprechenden Skills erwerben im Bereich der Sozialkompetenz, der digitalen Kompetenz weitab von jedem Fachwissen. Das ist das eine absolut wichtige Grundlage, die gesetzt werden muss.
Auch unsere ältere Bevölkerung müssen wir mitnehmen, niederschwellig, klar. Wir können es uns nicht leisten, das nicht zu tun. Digitalisierung ist für alle wichtig.
Natürlich ist das eine ganz, ganz schwierige Aufgabe. Aber was geht, hat diese Pandemie gezeigt. Schlagartig sind Leute digitalisiert, von denen man es lange nicht gedacht hat, dass sie das tun.
Auch der Finanzsektor macht mit. Und damit meine ich jetzt nicht nur bitcoin, smart contracts und diese ganzen Themenfelder, sondern auch Datensicherheit. Aber auf der anderen Seite frisst dieses Thema unendliche Mengen von Ressourcen.
Stefan Völlmert: Corona ist ein Brandbeschleuniger auch für das Bildungswesen. Ein Beispiel: Wir sind ja bereits digitale Schule, haben aber trotzdem nie Wert auf Distanz-Unterricht gelegt. Warum auch? Das war nicht unser Schwerpunkt. Jetzt haben uns Eltern teilweise vorgeworfen: „Ihr seid doch digitale Schule. Warum klappt das mit dem Distanz-Lernen nicht so?“
Ich glaube, dass im Bildungsbereich allein durch die Bereitstellung für mich unvorstellbarer finanzieller Mittel bis vor kurzem ganz große Chancen und Möglichkeiten bestanden, um Schule in allen Bereichen zu individualisieren.
Ich habe noch vor fünf Wochen zu einem Kollegen gesagt: „Digitale Endgeräte für Lehrer wird es, so lange ich als Schulleiter oder irgendwie im beruflichen tätig bin, nicht geben.“ Meinen Kollegen, die neu dazugekommen sind, habe ich gesagt: „Wir setzen iPads ein, und Du musst so ein Gerät haben. Aber Du musst es Dir leider selber kaufen.“
Es ist für mich unfassbar, aber wir haben jetzt eine Mail bekommen, dass wir diese Geräte kriegen. Es ist also ein Prozess in Gang gekommen; jeder Lehrer wir mit einem digitalen Endgerät ausgestattet. Denn die Lehrer müssen die Kompetenz haben.
Ich habe ein sehr junges Kollegium, das dazu bereit ist, dies aber in der Lehrerausbildung überhaupt nicht wirklich gelernt hat. Konkret an unserer Schule haben wir deshalb verschiedene Projekte, die in die richtige Richtung gehen. Wir fangen schon seit 2015 in der fünften Klasse an, für interessierte Schüler Profile im Bereich Informatik anzubieten. Wer Lust hat, kann da Drohnen und Roboter programmieren. In der Klasse sieben kann man dann das Hauptfach oder auch Wahlpflichtfach Informatik bei uns wählen. Dann schreibt man auch richtig Klausuren in diesem Fach und wird, glaube ich, ganz gut fortgebildet.
Auf der anderen Seite müssen wir natürlich auch gucken, dass wir die Schüler für die Gefahren und ein bisschen sensibel machen. Da haben wir verschiedene Programme: Fit for Social Media. zum Beispiel.
Zum übernächsten Schuljahr, nicht zu diesem, ist das Land auf die Idee gekommen, dass wir ein Pflichtfach Informatik brauchen. Ich behaupte mal sehr selbstbewusst: Das, was wir seit 2015 machen, kommt jetzt für alle Schulen. Denn wir alle müssen Informatik als Fach etablieren, für alle Schüler. Und alle Schüler müssen im Bereich der Digitalisierung Kompetenzen erwerben, die sie benötigen werden – egal ob an der Supermarkt-Kasse, im Pflegebereich oder als Dozent an einer Universität. Da geht die Zukunft hin.
Ich glaube, dass wir noch einmal – bedingt durch Corona – ganz viel Tempo zugelegt haben und in diesem Bereich unglaublich schnell geworden sind. Wir müssen gerade deswegen sehr gut aufpassen, was wir machen. Es darf nicht dazu führen, dass jetzt Gelder verschleudert werden und Schulen ausgestattet werden mit Dingen die sich in der Praxis nicht als geeignet herausstellen.
Ich weiß, der Schulträger in Gelsenkirchen hat große Gelder bereitgestellt vor der Corona-Krise. Jeder Klassenraum in der Stadt wurde mit einer digitalen Tafel ausgestattet. Das ist für mich der völlig falsche Weg. Man hat Geld investiert in Hardware, ohne darüber nachzudenken, dass dieser Beamer, der da oben dranhängt, von den Schülern kaputt gemacht werden kann, dass nach zwei Jahren diese Birne gewechselt werden muss, dass der nach zwei Jahren gewartet werden muss. Und dafür sind keine Gelder da.
Der Lehrer, der in diesem Klassenraum unterrichtet – ich mache es jetzt mal plakativ – die 65-jährige Kollegin, kurz vor der Pension, die ihr Leben mit der Kreidetafel verbracht hat, kann das nicht mehr und wird sich auf diese digitale Tafel nicht einlassen. Der Weg muss dahin gehen, dass die Lehrer mitgenommen werden, kompetent gemacht werden. Und die Ausstattung wird so angepasst im Bildungsbereich, dass sie die Schüler so kompetent machen kann, dass sie in der zukünftigen Arbeitswelt die Berufe, die es heute noch nicht gibt, möglichst gut ausführen können.
Michael Lücke: Ich habe an einem Gymnasium in Bottrop Abitur machen dürfen und war dann letztes Mal da. Da hat man mir dann auch ganz stolz gezeigt, dass man jetzt diese digitalen Tafeln hat. Da habe ich die Hände über den Kopf zusammengeschlagen. Um Gottes Willen, wenn das Digitalisierung bedeutet, dann läuft das ja komplett in die falsche Richtung. Da bin ich ganz komplett bei Herrn Völlmert.
Stefan Völlmert: Das ist die Situation, die wir 2015 schon hatten, wo der Schulträger gefragt hat: Was braucht ihr? Die haben mit einer digitalen Tafel gestartet und haben nach einem halben Jahr gesagt: Nehmt die bitte wieder zurück, wir wollen die nicht haben. Völliger Quatsch, da kann einer dran spielen und vielleicht noch ein zweiter Schüler. Da können zwei Kinder oder zwei Menschen digital arbeiten, das war es.
Jasmin Bendick: Sie sprachen gerade von der 65-jährigen Kollegin, die man nicht mehr erreichen kann. Doch genau diese Bretter bohren wir, denn unsere Ansprechpartner sind die Generation 65 plus. Wir wollen sie so technikaffin machen, dass sie ein Teil der Gesellschaft bleiben. Weil: Wenn man nicht digital ist, ist man kein Teil der Gesellschaft mehr. Das ist jetzt durch Corona ganz bewusst geworden: Sie wollten ein Ticket für Bus und Bahn kaufen, aber das ging auf einmal nur noch digital. Was macht man da als 80-Jähriger, der noch nie etwas von Smartphone, Tablet oder sonst irgendetwas gehört hat?
Zu Hause bleiben?
Jasmin Bendick: Ja, man ist raus. Auch weil der Einzelhandel gerade in den ländlichen Bereichen verschwindet und durch Onlineshops ersetzt wird. Dabei hat gerade die ältere Generation in ihrer Bildungshistorie größte technische Veränderungen vom Schrubbbrett bis zur Waschmaschine mitgemacht. Und eigentlich könnten der Computer und das Internet für sie ein Klacks sein.
Wir haben die Erfahrung gemacht, dass ältere Menschen digitale Angebote durchaus annehmen. Man muss natürlich bildungstechnisch ganz anders an die Leute herangehen. Sie kommen aber! Die Kurse bei uns sind voll, und da sitzen auch 93-Jährige, die dann sagen: „Bitte erklärt mir das. Wie kann ich das machen? Wie kann ich jetzt mit meinem Partner im Pflegeheim kommunizieren? Über eine Kommunikationsplattform, weil ich ihn gerade nicht besuchen kann.“
Über solche niederschwelligen Angebote im sozialen Bereich versuchen wir, den Transfer zu schaffen. Übrigens für eine Generation, die die größte Säule darstellt in Deutschland, wenn es um Kaufkraft geht. Ob im Sozialbereich oder in der Pflege.
Und es gelingt. Aber man muss auch große Bretter bohren. Mit ganz viel Geduld.
Was brauchen wir denn jetzt am meisten? Brauchen wir soziale Kompetenz? Oder brauchen wir technische Kompetenz?
Jasmin Bendick: Ich würde erst einmal im Grundsatz sagen, dass noch fester in der Gesellschaft verankert sein muss, dass man sich gegen die Digitalisierung nicht wehren kann. Sei es im Schulsektor, sei es in der Forschung: Wir hangeln uns von Modellprojekt zu Modellprojekt. Das heißt, es gibt keine festen Stellen. Dabei müssen dort definitiv mehr Gelder reinfließen und auch mehr Vernetzung geschehen. Jeder redet von Digitalisierung und jeder kocht da sein eigenes Süppchen – mehr Miteinander, das würden wir uns wünschen.
Stefan Völlmert: Ich glaube es ist wirklich eine Mischung von beiden: technische Kompetenz und soziale Kompetenz. Für mich gehört aber vor allem ganz viel Mut dazu. Und Zeit. Zeit, Dinge auszuprobieren. Hier spreche ich jetzt für die Schule, aber das ist in der Wirtschaft genau das Gleiche. Es gilt zu erproben, was sich als nützlich erweist für uns Menschen.
Das ist ja die Gefahr, dass die Digitalisierung von den Menschen irgendwie wegführt? Apps kommen technisch auf den Markt, täglich Zigtausende. Man muss die Zeit, das Interesse haben, sie auszuprobieren und zu gucken, was davon ist wirklich sinnvoll. Was bringt mich in meinem digitalen Zuhause vielleicht weiter? Was brauche ich wirklich? Was ist großer Quatsch? Wo geht es nur darum, Geld zu produzieren, künstlich?
Um das als Verbraucher unterscheiden zu können, brauche ich die beiden angesprochenen Kompetenzen, technische und soziale Kompetenzen. Und in den Bereichen, wo es um Bildung geht, brauche ich wirklich – und so machen wir das bei uns in der Schule – den Mut auszuprobieren.
Wir haben einfach angefangen mit einem Modell, das es damals nicht gab. Und wir haben ausprobiert, haben viele Fehler gemacht und haben – glaube ich – aus diesen Fehlern. Einfach weil uns die Zeit gegeben wurde. Wir haben viel gelernt, und wir haben verständnisvolle Eltern gehabt, die das mitgetragen haben.
Niemand weiß, wo es für uns hingeht. Man muss Möglichkeiten ausloten: Wo geht die Digitalisierung hin? Und man sollte sich nicht irgendwie festfahren.
Digitalisierung soll dem Menschen nützen. Was sind die Bereich,e die nützlich sind für das Kindergartenkind, aber auch für den 90-jährigen Rentner. Und wohin wollen wir uns da weiterentwickeln? Dazu braucht man Zeit und Mut.
Michael Lücke: Das sehe ich alles genauso. Diese Kompetenzen müssen wir natürlich vermitteln. Jeder kann in allem Spezialist werden, aber das ist wie in der Mathematik: Alle brauchen und kriegen die Grundlage. So muss das in der sozialen, digitalen Kompetenz eben auch sein. Danach kann jeder wiederum seine Spezialgebiete raussuchen: ob er Ingenieur werden will oder Informatiker. Oder in die sozialen Berufe, in die gesundheitlichen Berufe.
Aber was wir auf jeden Fall dafür brauchen ist eine Kultur. Eine Kultur des Einfach-mal-Machens. Das muss sich etablieren, da sind andere Länder weiter als wir. Sehe ich unsere Denkstrukturen und auch das Thema Gründerszene, dann habe ich so ein bisschen das Gefühl, dass wir in Deutschland gerade etwas beatmet werden müssen.
Und dann brauchen wir eigentlich noch rechtliche und ethnische Rahmenbedingungen. Auf die Ethik an sich kann man leider nicht setzen, denn es werden immer ganz viele Menschen ihre wirtschaftlichen Interessen in den Vordergrund stellen. Über andere Interessen wie bei Missbrauch im digitalen Bereich, Darknet usw. will ich erst gar sprechen in diesem Zusammenhang.
Dies alles wird nicht von alleine aufhören. Das hört nur auf, wenn wir rechtliche Rahmenbedingungen und Strukturen schaffen. Da müssen wir ran, und da müssen wir auch ganz, ganz schnell ran. Wenn ich sehe, wie diese eher dunklen Bereiche des Internets explosionsartig Sachen hervorbringen, da kommen wir derzeit rechtlich nicht mehr mit, offensichtlich. Und leider sind unsere Strukturen, die wir in der Gesetzgebung haben, noch analog. Deshalb hinken sie dem Kriminellem im Digitalen deutlich hinterher. Deshalb müssen wir jetzt auch hier schneller werden.
Mehr Geld, mehr Zeit, mehr Mut, mehr Kultur. Mehr „Einfach mal machen“ und bessere, vielleicht auch klarere rechtliche Rahmenbedingungen. Das sind Ihre Wünsche Für die Abschlussrunde bitte ich Sie, zwei Fragen zu beantworten: Wo stehen wir in fünf Jahren, wenn wir diese Ressourcen tatsächlich locker machen? Und welchen Rat geben Sie unseren Leserinnen und Lesern mit in Sachen Digitalisierung?
Jasmin Bendick: Vielleicht öffnen sich gerade auch in Verwaltung und öffentlichem Dienst Türen und Herzen für die Digitalisierung. Ich glaube, das ist machbar. Auch, um es für den Bürger einfacher zu machen. Ich würde mir aber wünschen, dass Sachen nicht zu kompliziert gemacht werden, sondern dass man sie so runter bricht, dass auch Menschen mitgenommen werden können ohne technisch affinen Background. Und Menschen, die aufgrund ihres sozialen, ihres Bildungsstandards oder ihren finanziellen Möglichkeiten sonst nicht von der Digitalisierungswelle erreicht werden.
Mein Rat ist: Macht Digitalisierung plakativer. Macht sie greifbar. Wenn alles ein bisschen verständlicher wird, kann sich der Mensch kritisch überlegen: Hilft mir das jetzt in meiner Lebenssituation weiter? Wenn ja, dann probiere ich es aus.
Stefan Völlmert: Das ist ja derzeit keine digitale Revolution, sondern für mich eine digitale Evolution. Und Evolution dauert immer sehr lange. Deswegen sind fünf Jahre vielleicht ein kurzer Zeitraum. Ich wünsche mir, dass ich, dass es dann viele Schulen gibt, die gut ausgebildete Lehrer haben. Nicht nur in den üblichen Fächern, sondern im Bereich der Digitalisierung. Die digitale Endgeräte oder alle Möglichkeiten so nutzen können. Und dass diese den Schülern zu Gute kommen.
Es geht nicht darum, irgendwie den Schülern zu sagen: „Hey, ich kann Dir das neuste YouTube-Video zeigen, das macht Dir Spaß.“ Sondern die Geräte bieten schon jetzt die Möglichkeiten, Unterricht absolut zu individualisieren. Ich kann jedem Schüler genau das geben, was er braucht. Das ist aber heutzutage noch sehr aufwendig.
Ich wünsche mir, dass das in fünf Jahren möglichst viele Lehrer an vielen Schulen können, mit wenigen Klicks. Dazu müssen Apps entwickelt werden … Im Mathematikbereich gibt es schon tolle Apps, die das können. Im sprachlichen Bereich ist das schwieriger. Aber das ist mein Wunsch, dass wir dahin kommen, den Unterricht vom Förderschüler bis zum Gymnasiasten so individuell zu gestalten, dass jeder das bekommt, was er braucht.
Mein Tipp widerspricht dann allem was ich vorhergesagt habe. Er lautet: Man darf sich nicht überrollen lassen von der Digitalisierung. Das wahre Leben ist und bleibt analog. Wir leben analog. Und um zu leben, muss man die digitale Welt irgendwo verlassen. Man muss in den Wald gehen, und man muss auch mal die Geräte ausschalten. Das ist für mich ganz wichtig.
Ich finde Digitalisierung ist ein ganz spannendes Thema, das nicht wegzureden ist. Aber bei allem, über was wir gesprochen haben, ist es auch wichtig, das eigentliche Leben zu leben, und das ist für mich absolut analog. Ohne ein Handy, ohne ein Tablet.
Auch ich habe mein mobiles Büro hier liegen und immer dabei. Aber man darf sich davon nicht überrollen lassen. Man muss auch mal ausschalten können. Also: Gehen Sie in den Wald.
Michael Lücke: Also mein Wunsch geht in Richtung Lebensqualität. Ich glaube, wir haben die Chance, mit der Digitalisierung unsere Lebensqualität zu erhöhen, und zwar in jedem Bereich. Mit einer Gesundheits-App halten wir uns fit. Es gibt eine Einkaufsservice-App für ältere Leute. Und wenn ich überlege, dass ich in der Zeit des Homeoffices pro Tag 70 Kilometer Autofahrt gespart habe – und damit nicht nur CO² und Stickstoff, sondern vor allem meine Zeit. Ich habe auf einmal nicht mehr anderthalb Stunden auf deutschen Autobahnen verbracht, sondern effektiv an meinen Rechner. Diese Zeit habe ich sogar zum Teil meinem Arbeitgeber geschenkt, aber trotzdem meine Lebensqualität gesteigert.
Mein Wunsch wäre, dass wir diesen Gedanken mitnehmen und sagen: Wir können durch Digitalisierung die Lebensqualität steigern. Es muss nicht immer nur ein hartes betriebswirtschaftliches Interesse dahinterstecken, sondern es kann zur Win-win-Situation werden.
Mein Rat würde eben genau in die Richtung gehen, dass wir Menschen Digitalisierung kulturell und politisch in die Gesellschaft hineintragen. Dafür bin ich als Ingenieur der Verkehrte. Das müssen andere tun.
Ich war letztens in einer großen Essener Brauerei und habe mit den Firmeninhabern gesprochen, in wieweit man Bierfässer intelligent machen kann.
Stefan Völlmert: Ich hoffe, es war Stauder.
Michael Lücke (lächelt): Das sind ja spannende Fragestellungen. Wo ist das Fass? Wie voll ist es? Hat es die richtige Temperatur? Den richtigen Druck? Ist es leer und verschmutzt? Muss ich es stark reinigen?
Und das gilt ja nicht nur für die Fässer. Ich kann die Trinkgläser unten im Chip versehen und auf den Tisch abstellen. Das Glas am Tisch meldet dann an die Theke: bitte neu zapfen. Und ich kann darüber bezahlen, am besten dann über die Volksbank-Bezahl-Systeme und nicht über PayPal J.
All das kann ich damit natürlich machen. Ich kann damit einen ganzen Prozess als Transformation durchdigitalisieren. Und wenn jetzt auch noch ein bisschen Lebensqualität und Umweltschutz dabei herumkommt, dann ist es gut.
Vielen Dank! Und ich habe eine ganze Menge gelernt. Vielleicht bekommt man meine Analysis-Schwäche aus der Oberstufenzeit jetzt mit einer App in den Griff. Und in der Pflege ist längst nicht mehr nur die Dokumentation digital. Amazon verschwindet demnächst in Bottrop, weil die Händler vor Ort ihre Produkte per eigenem Online-Shop und eigenem Kuriersystem an den Mann und die Frau bringen. Ich habe gelernt, dass mit 65 vielleicht die berufliche Laufbahn zu Ende ist, aber ganz bestimmt nicht die Fähigkeit, sich auf Neues einzulassen und neugierig zu bleiben.
Vor allem aber ist mir noch mal klar geworden, dass das Digitale das Analoge braucht, damit wir glücklich sind: das manchmal tobende Miteinander in der Schule, das Lächeln des Pflegers, das freundliche Hallo der Händlerin, der Handschlag unter Partnern, das In-den-Arm-Nehmen unter Freunden. Ich wünsche uns allen eine gute Zeit!